Glosse & Ratespiel: von Michael Springer
Berlin wächst und baut! — Allein die Schulbauoffensive wird voraussichtlich über 5,5 Milliarden Euro kosten. Viele Grundsteinlegungen, Rohbaufertigstellungen, Richtfeste und Einweihungen, nebst Schlüsselübergaben sind zu feiern!
Was früher Anlaß zu umfassender einladender, feierlicher, würdigender und erklärender Presseberichterstattung in einer offenen Stadtgesellschaft üblich war, hat sich heute radikal verändert. Digitalisierung ist das Zauberwort!
Schnell gedrehte Videos. PolitikerInnen und StadträInnen vor Bautafeln, Kränen und Fassaden werden auf YouTube gezeigt. Presseartikel sind rar geworden. Komischerweise kommen auch kaum noch Journalisten zu den eingeladenen Presseterminen. Und wenn tatsächlich etwas „qualitätsjournalistisch“ publiziert wird, verschwindet es hinter einer Aufforderung zum Abschluß eines Bezahlabos. Abo-Paywalls sorgen so nach und nach für das Verschwinden der Stadtöffentlichkeit und leiten den Verfall der über inkluisive Öffentlichkeit definierten offenen Gesellschaft ein.
Wenn sich der YouTube-Kanal zur Berliner Schulbauoffensive mit 37 Video und ganzen 2.215 Aufrufen (Zuletzt am 10.01.2022 aktualisiert) digital in einer 3,8 Millioonen-Metropole Berlin präsentiert, muss etwas grundlegend schief laufen. Schaut man genauer hin, so haben die Youtube-Videos von Schulbau-Ereignissen in der Regel nur niedrige dreistellige Abrufzahlen.
Die Zahlen könnten besser sein, wenn die Spandauer Tageszeitung besser berichten könnte. Aber für weniger als 1000 Leser und Video-Aufrufe sind für digitale Lokalzeitungen auch nur noch weniger als 10 Cent digitale Erträge über Google realisierbar.
— Kein Wunder also, wenn Lokaljournalisten nicht mehr für Lokalereignisse einsteigen – denn noch nicht einmal die Stromkosten des digitalen Angebots werden davon erwirtschaftet. Auch Fahrgeld für BVG, Lohn und Abgaben für den Pressetermin kommen garantiert nicht mehr zusammen! — Ehrenamtlich müssten wenigstens 1.11 € pro Einsatz-Stunde erwirtschaftet werden, nur um die anteilige Miete für die Wohnung zahlen zu können.
Google kassiert dagegen bis zu 2,50 € pro Klick, wenn Google-Ads von Berliner Händlern geschaltet werden. Das sind nach Adam Riese dann 2.500 € pro 1000 Klicks.
In Berlin hat sich nun eine seltsame Praxis eingespielt: auf den Internetseiten des Bezirksamtes Spandau (und aller anderen 11 Bezirksämter) werden „sogenannte Presseerklärungen“ veröffentlicht, die aber eigentlich „bürgeröffentliche Ankündigungen“ und „öffentliche Mitteilungen“ sind. Denn sie werden nicht wie früher üblich nur an Journalisten übermittelt, um ihnen Zeit für Bearbeitung, Einordnung und Kommentierung zu geben.
Die ofortige allgemeine Veröffentlichung macht aus den Mitteilungen „unkommentierbare Verlautbarungen“, die kaum noch ausrreichenden Neuigkeitswert für eine journalistische Bearbeitung haben.
KommunalpolitikerInnen, StadträtInnen und SenatorInnen fühlen sich heute zu Recht weitgehend von Journalisten allein gelassen, und greifen dann zum „Äußersten“: Das Smartphone wird gezückt, und das Gruppen-Selfie wird geschossen!
Verfassung hin — Gewaltenteilung her, das „Gruppen-Selfie“ von Grundsteinlegungen, Rohbaufertigstellungen, Richtfesten, Einweihungen und Schlüsselübergaben wird an der Presse vorbei selbst publiziert! Damit es besser klappt, wird auch eine eigene Pressestelle für die Schulbauoffensive eingerichtet, die aus Steuermitteln finanziert wird, jedoch unglücklicherweise keine besonders großen Leser- und Zuschauerzahlen zusätzlich gewinnt.
Auf die Idee ist man offenbar noch nicht gekommen, es könne in der Berliner Medienpolitik etwas völlig schief gegangen sein! — Vielleicht möchte man aber auch gar nicht mehr kritisiert werden. Die Idee einer „digitalen DDR 4.0“ erscheint ja auch ohnehin manchen PolitikerInnen bereits als „alternativlos“
So entsteht in Berlin ein „digitales Nebenher“ von Politik, Verwaltung und Presse. — Heilbar ist es nur, wenn die Digitalisierung die vom Grundgesetz und Landesverfassung vorgesehenen Checks & Balances und die Gewaltenteilung nicht einebnet und außer Kraft setzt. — Journalismus ist nach bisherigem Verständnis „systemrelevant“ für die Demokratie!
Übrigens: es drohen auch Nebeneffekte: seien wir doch ehrlich: „Politician generated content“ kippt leicht ins Lächerliche und Katzenfotos sind im Internet alllemal gefragter!
Katzen-Selfie-Ratespiel: „Die Schlüsselübergabe der Woche“ – „Welche prominente Schlüsselübergabe eines neuen Schulerweiterungsbaus in Spandau hat in der letzten Woche stattgefunden?“ — Welcher prominente Bezirkspolitiker hat ein Gruppenselfie geschossen? Wer`ist auf dem veröffentlichten Foto zu sehen?
Hinweise bitte senden an: info@spandauer-tageszeitung.de